2009-04-24

OCLC plant Internet Library Services

Werden Bibliothekssysteme (englisch: Integrated Library Systems ILS) in Zukunft durch Internet Library Services ersetzt? Das Online Computer Library Center (OCLC) verfolgt offensichtlich dieses Ziel. Der Welt größte Bibliotheksorganisation aus Dublin, Ohio verkündete gestern ihre Strategie, die darauf hinausläuft WorldCat Local in ein Konkurrenzprodukt zu klassischen Bibliothekssystemen auszubauen. Geplant ist die Entwicklung des WorldCat-basierten Lokalkatalogs zu einem integrierten Service, der neben einem Online-Katalog eben auch Funktionen umfasst, die bisher von Bibliothekssystemen übernommen wurden. Im ersten Schritt vom Integrated Library System zum Internet Library Service erhalten alle zahlenden OCLC-Mitglieder mit einem Firstsearch-Abo die Möglichkeit WorldCat Local als "quick start"-Version ohne zusätzliche Kosten zu nutzen. Ab nächstem Jahr soll WorldCat Local dann mit weiteren Funktionen für Ausleihe, Erwerbung und Lizenzmanagement ausgestattet werden. Der kooperative Charakter des ganzen Systems soll den Bibliotheken zusätzlichen Nutzen bringen.

Zur Klarstellung: OCLC selbst bezeichnet den beabsichtigen Service als "cooperative library management service" oder "platform-as-a-service" und spricht die Konkurrenz zu bestehenden Bibliothekssystemen und seine Absichten auf dem Markt für Bibliothekssysteme nicht konkret an. Der Ausdruck "Integrated Library System (ILS)" findet sich in keinem der OCLC-Texte zum Thema. Marshall Breeding macht allerdings in seinem Beitrag für das "Library Journal" deutlich:
"This new project, which OCLC calls 'the first Web-scale, cooperative library management service,' will ultimately bring into WorldCat Local the full complement of functions traditionally performed by a locally installed integrated library system (ILS)."
Es ist davon auszugehen, dass die zunächst geförderte Interoperabilität zwischen WorldCat Local und lokalen Bibliotheksystemen nur ein Übergangsstadium ist auf dem Weg zu einer Ablösung der lokalen Systeme durch OCLCs Plattform-Service. Die neue Strategie OCLCs wird also einige Bewegung in die ILS-Industrie bringen.

Eine lange überfällige Entwicklung
OCLC setzt nun also um, was in der Bibliothekswelt schon lange überfällig war. Wieso haben denn Bibliotheken ihr eigenes Lokalsystem, in dem die gleichen Daten vorgehalten werden, die sich auch im Verbundkatalog befinden? Wenn ein Bibliothekskatalog auch einfach als eine Teilmenge des Verbundkatalogs implementiert werden kann? Ich bin erst seit kurzer Zeit im Bibliothekswesen und habe mir diese Fragen schon öfter gestellt. Ein solcher Ansatz wie der OCLCs würde sämtliche Synchronisationsprobleme verschwinden lassen und auch müssten Bibliotheken keine lokale Server- und Softwareinfrastruktur mehr unterstützen. Zudem ergeben sich mit einer gemeinsamen Infrastruktur neue Möglichkeiten der Kooperation. OCLC sagt dazu:
"OCLC's vision is similar to Software as a Service (SaaS) but is distinguished by the cooperative "network effect" of all libraries using the same, shared hardware, services and data, rather than the alternative model of hosting hardware and software on behalf of individual libraries."
Unter dem technischen Aspekt ist dies also eine logische und zu begrüßende Entwicklung, die man nur gutheißen kann. Allerdings ergeben sich einige Probleme durch den enormen Machtzuwachs des - ohnehin weltweit mächtigsten - Unternehmens im Bibliothekswesen.

Ein Ausbau des OCLC-Monopols?
So interessant und sinnvoll die Entwicklung ist, nach unseren Erfahrungen mit der versuchten Verordnung einer OCLC-Metadaten-Policy bestehen berechtige Bedenken, dass OCLC versucht, sein (zumindest im angloamerikanischen Raum) de facto Metadaten-Monopol zu nutzen, um auch ein Software-Monopol aufzubauen. Tim Spalding spekulierte schon vor zwei Jahren über solche Absichten OCLCs und warnt auch heute vor einem OCLC-Monopol.
Fakt ist: Wenn die Mitglieder nicht die geplante Metadaten-Policy verhindern oder substantiell ändern, dann wird OCLC auch im Bereich der Bibliothekssysteme übermäßige Macht bekommen. Denn: Mit einer WorldCat-Metadaten-Policy, die verbietet, unter Verwendung von WorldCat-Daten "the function, purpose, and/or size of WorldCat" nachzubilden, kann kein anderer Anbieter ernsthaft in Konkurrenz zu OCLC treten. Es wäre einfach nicht möglich die erforderliche Datenmenge aufzubauen.

Somit macht die von OCLC angekündigte Strategie nur noch deutlicher: Die OCLC-Mitglieder, ja die gesamte bibliothekarische Gemeinschaft müssen für eine WorldCat-Metadaten-Policy kämpfen, welche die WorldCat-Daten unter eine Lizenz stellt, die den freien Zugriff auf diese Daten sowie ihren unbegrenzten Transfer erlaubt. Da das Erstellen der Metadaten zum größten Teil aus öffentlichen Mitteln finanziert wurde, ist diese Forderung ohnehin die einzig konsequente.

2009-04-14

Ein Weckruf

von Peter Mayr Adrian Pohl
[Diese Rezension ist ein Gemeinschaftsprodukt von Peter Mayr (Blog, Twitter) und mir. Wir haben sie im Rahmen des MALIS an der FH Köln verfasst.]

Transformational Times: An Environmental Scan Prepared for the ARL Strategic Plan Review Task Force. (2009). (S. 24). Association of Research Libraries. Abgerufen April 3, 2009, von http://www.arl.org/bm~doc/transformational-times.pdf.

Das Papier
Mit "Transformational Times" legt die Association of Research Libraries (ARL) eine zukunftsweisende Studie vor, die an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig lässt. Das als "environmental scan" bezeichnete Papier zeichnet ein grobes Bild der zukünftigen Entwicklungen in Forschung, Wissenschaft, Politik und Recht, an denen sich wissenschaftliche Bibliotheken zu orientieren haben. Der Weckruf kommt von einer kraftvollen Organisation, deren Stimme in Bibliothekswesen und -politik Nordmerikas einiges Gewicht hat. Die Association of Research Libraries ist eine Vereinigung von großen Forschungsbibliotheken in den USA und Kanada. Ein annäherungsweise vergleichbarer Zusammenschluss in Deutschland ist die Arbeitsgemeinschaft der Spezialbibliotheken (ASPB), deren Mitlieder allerdings aus einem breiteren Spektrum von Bibliotheken stammen.
"Transformational Times" dient als Grundlage für eine Neuausrichtung der ARL-Strategie, auf deren Basis schließlich die Prioritäten und Aktivitäten für die kommenden Jahre festgelegt werden sollen. Der "environmental scan" betrachtet die Entwicklung der Umwelt wissenschaftlicher Bibliotheken und unterscheidet hierzu drei Bereiche, denen jeweils ein Kapitel gewidmet wird:
  1. Die Verfahren der Kommunikation und Publikation in den Wissenschaften
  2. Die Auswirkungen von Politik und Gesetzgebung auf die Bibliothekswelt (auf USA & Kanada beschränkt)
  3. Die Rolle der Bibliothek beim Forschen, Lernen und Lehren
Besonders interessant sind die Punkte 1 und 3, weil sich hier größere Parallelen zur Entwicklung in Europa finden.
Bevor die einzelnen Kapitel näher betrachtet werden, hier einige Schlüsseltrends, die sich herauskristallisieren:
  • Bibliotheken müssen die Abläufe zur Verwaltung traditioneller Inhalte verändern und neue Fähigkeiten für den Umgang mit neuen Typen von digitalen Materialien und neuen (digitalen) Formen von Lehre, Lernmitteln, Spezialbeständen und Forschungsdaten entwickeln.
  • Die widerstreitende Entwicklung von immer restriktiveren geistigen Eigentumsrechten auf der einen und Open-Access-Modellen auf der anderen Seite wird sich verstärken.
  • Öffentliche Einrichtungen müssen in zunehmenden Maße eigene Erfolge gegenüber Unterhaltsträgern durch Zahlen belegen.
  • Neue kooperative Herangehensweisen an traditionelle und neue Praktiken sind gefragt.
  • Bibliotheken müssen Veränderungen ihrer Organisationsstrukturen und Dienstleistungen vornehmen und dafür heterogeneres Personal einstellen.
  • Der kontinuierliche starke Wandel in den Forschungs- und Lehrmethoden führt zu neuartigen Beziehungen zu den BibliotheksnutzerInnen.

Die Inhalte

Hier nun eine kurze Wiedergabe der wichtigsten Punkte in den einzelnen Abschnitten.

"Trends in Scholarly Communication"
Die ARL sagt in diesem Abschnitt eine Phase der ständigen Transformation und Entwicklung der wissenschaftlichen Kommunikations- und Publikationsstrukturen - u.a. als Reaktion auf die Zeitschriftenkrise - voraus. Dies zwinge Bibliotheken dazu, ihre Dienstleistungen zu verlagern und weiterzuentwickeln. Dazu sei eine Kommunikation und Kooperation mit anderen Partnern - insbesondere den Wissenschaftlern selber - unerlässlich. Bibliotheken müssten den aktuellen wissenschaftlichen Forschungsprozess kennen, um diesen zu fördern und die richtigen Dienste anbieten zu können. Eine besondere Herausforderung für Bibliotheken seien auch die zunehmende Kommunikation schon während des Forschungsprozesses (nicht mehr nur Publikation des Ergebnisses als Aufsatz) und neue Formen der Kommunikation. Auch darin entstandenes Wissen sollte von den Bibliotheken verwaltet und verbreitet werden können.

"Trends in Public Policies Affecting Research Libraries"
Der Bericht weist auf die bevorstehenden zuträglichen und hemmenden Entwicklungen in Politik und Rechtsprechung hin. Eine starke Reibung werde es zwischen Bestrebungen zur Förderung von Forschung und Lehre einerseits (u.a. Förderung von Open-Access-Publikationsmodellen) und der weiteren Entwicklung und Verschärfung des Urheberrechts und des Geistigen Eigentums andererseits geben. Die Förderung der Wissenschaft wie auch die Bemühungen zur Erhaltung digitaler geistiger und kultureller Inhalte könnten sich Bibliotheken zunutze machen, auf der anderen Seite stehe aber ein harter Wettbewerb um die Fördergelder bevor. Hervorgehoben wird auch der allgemeine Trend zur Messung und Bewertung öffentlicher Einrichtungen.

"Trends in the Library Role in Research, Teaching, and Learning"
Auch in diesem Abschnitt geht es um einen radikalen Wandel - in Forschung, Lehre und Lernverhalten. Genannt wird etwa die Entstehung sogenannter "Cyberinfrastructures", virtueller Lern- Lehr- und Forschungsumgebungen. Die Bibliotheken seien dadurch gezwungen, ihre Dienstleistungen anzupassen und selbst gravierende organisatorische Veränderungen vorzunehmen. Das Web2.0 schaffe derweil Tatsachen im Hinblick auf verstärkte Kommunikation und Kollaboration. Um sich an diese neue Wissenschaftslandschaft anzupassen und sie gar mitzugestalten müssen Bibliotheken mit Partnern zusammenarbeiten. Die Wahl der richtigen Kooperationspartner wird dabei zu einer grundlegenden Entscheidung. Der Bericht erwähnt zudem noch die Problematik der Langzeitarchivierung des Internets: Auch diese Frage ist für Bibliotheken von großem Interesse, in Zeiten, wo es etwa starkes Interesse an der Archivierung von Blogs (z.B. in den Rechtswissenschaften) gibt.

Die Wirkung

Eine der Stärken des Berichts ist sicher die gut strukturierte Darstellung anhand der drei strategischen Ausrichtungen. Während in der englischsprachigen Fachblogs die Thesen durchaus diskutiert werden (z.B. hier), ist die Rezeption im deutschsprachigem Raum verhalten. Bleibt abzuwarten, ob dieser Weckruf die erwünschte Wirkung zeigt und den Bibliotheken deutlich wird, welchen drastischen Veränderungen ihre Umwelt unterworfen ist. Eins ist klar: Auch wenn gewisse Leitlinien sichtbar werden, niemand weiß, wo die Reise konkret hingeht. Das ist aber auch eine Chance für Bibliotheken, die - wenn sie rechtzeitig und angemessen reagieren - diese Entwicklungen mitgestalten können.

2009-04-10

Der Text der Zukunft I: Die Vergangenheit

Die Ausformung neuer digitaler wissenschaftlicher Kommunikations- und Publikationsformen – manche nennen es Science 2.0 – ist in vollem Gange. In zunehmendem Maße benutzen Akademiker Wikis, Blogs, kollaborative Quellenverwaltungsanwendungen und ähnliches. Prognosen sind schwierig darüber, wie Wissenschaftler in zwanzig Jahren Theorien und Experimente entwickeln, Ergebnisse veröffentlichen und diskutieren werden.

Ich möchte hier die Frage behandeln, wie sich im Zuge der Entwicklung neuer Publikations- und Kommunikationswerkzeuge unser Begriff von (geistes)wissenschaftlichen Texten verändern kann und wird [1]: Welcher Begriff von „Text“ herrschte in der Vergangenheit vor und wie wird die Zukunft aussehen? Welche Auswirkungen hat der Medienwechsel vom Papier zum Bit auf die Konstitution von Textidentitäten?
Ich beginne mit der Vergangenheit und behandle in diesem ersten Teil das Zeitalter der Druckpresse. Im zweiten Teil werde ich schließlich die Möglichkeiten des Bitzeitalters ausloten.

Das Papierzeitalter

Ich werde also über das Papierzeitalter, über die gegenwärtige, noch nicht vergangene Vergangenheit sprechen. Vier grundlegende Eigenschaften dieses Zeitalters werde ich herausstellen: seine Verwurzelung in einer Welt der Gegenstände, seine Intertextualität, die Rolle des Lesers als Konsument sowie die Ablösung des Textes von seiner Geschichtlichkeit.
Werke sind Gegenstände
Die uns vertrauten Publikationsformen des Papierzeitalters lassen uns glauben, der wissenschaftliche Text sei ein Ding, welches uns als eine Menge von Seiten klar vor Augen liegt. Schließlich haben wir es beim Buch mit einer abgegrenzten körperlichen Einheit zu tun, es ist ein Gegenstand, der uns auf dem Kopf fallen kann und dessen Elemente (Seiten) wir zählen können. In einer atomisierten Welt, in der sich einzelne Bücher klar unterscheiden lassen, vermitteln uns diese monolithischen Publikationsformen leicht den Eindruck als wüssten wir genau, was ein Text ist, was seine Identität ausmacht. Die Praktiken bei der ISBN-Vergabe und der Katalogisierung spiegeln diese Auffassung von Textidentität wider und verstärken sie gleichzeitig: Eine ISBN bekommen Bücher und katalogisiert werden Monographien und Zeitschriften, meist aber keine Aufsätze. [2] Kurz: In einer Welt, in der Texte in der Regel auf gebundenem Papier daherkommen, ist auch unser Konzept der Textidentität stark von dieser medialen Erscheinungsform geprägt.
Verwobensein
Allerdings hat sich bereits im Papierzeitalter gezeigt, dass jeder Begriff von Textidentität, der sich auf dem Paradigma der Druckpublikationen gründet, ein stark verkürzter ist und unsere Auffassung davon, was ein Text ist, in die Irre führt. Die bis in die 60er Jahre zurückgehende Intertextualitätsforschung baut auf der Vorstellung auf, dass ein Text seine Identität nicht aus sich selbst heraus, sondern vielmehr durch die Stellung, die er in der Literatur einnimmt, erhält. „Literatur“ hier im Sinne des endlos gesponnenen Textgewebes aus wissenschaftlichen, philosophischen, prosaischen, lyrischen und anderen Texten, das ein grundlegender Pfeiler unserer Kultur ist. Die Identität eines Textes wird eben dadurch bestimmt, dass er Teil der Literatur ist und somit ein Stein im Spiel der Intertextualität. Jeder Text erhält seine Bedeutung und seinen Wert durch seine Relationen zu anderen Texten – seien dies Texte, an die er (explizit oder implizit) anknüpft, auf die er verweist oder Texte, die ihrerseits an ihn anknüpfen. Augenfällig wird die Intertextualität etwa in Zitaten und Verweisen, ein großer Teil der Verknüpfungen zwischen Texten bleibt aber implizit.
Der Leser als Konsument
Jede Verknüpfung schafft Erkenntnis. Die Intertextualitätsforschung stimmt mit Theoretikern wie Nelson Goodman, Jacques Derrida oder Ludwig Jäger in der Annahme überein, dass sich sämtliche Erkenntnis immer in der Verknüpfung mit und Verformung von Bestehendem vollzieht und somit alles Wissen je Produkt von Anknüpfungs- und Transformationshandlungen ist.
Ein Merkmal des Papierzeitalters ist, dass ein großer Teil dieser Verknüpfungs- und somit Erkenntnisarbeit privat und weitestgehend unerkannt stattfindet. Ich spreche von Prozessen, die beim Lesen von Texten stattfinden. Ich spreche von der Produktivität des Rezipienten, die sich in Handlungen wie dem Unterstreichen, dem Verweisen auf Bekanntes, dem Hervorheben relevanter neuer Anknüpfungspunkte zeigt. Diese produktiven Prozesse gehen meist in den Notizen des Lesers oder am Rande der Buchseiten verloren. Allein wenn der Leser selbst zum Produzenten wird und ein Werk veröffentlicht, werden seine kreativen Verknüpfungen für andere zugänglich und nachvollziehbar. Die Publikationsschwelle im Papierzeitalter liegt aber bekanntlich sehr hoch.
Werke ohne Geschichte
Nicht nur die so kostbaren Anmerkungen und Verknüpfungen der Leser gehen im Papierzeitalter systematisch verloren. Durch das papierbasierte Publizieren werden Texte zudem ihrer Geschichtlichkeit beraubt, weil sie in der Regel über ihre Genese keine Auskunft geben. Ein wissenschaftlicher Text im Papierzeitalter ist nicht mehr als eine Momentaufnahme, die von ihrer Entstehungsgeschichte nichts preisgibt. Die verschiedenen Überlegungen und Erkundungen, die beschrittenen Sackgassen und Holzwege, die ihren Ausdruck etwa im Wurf in den Papierkorb, in Durchstreichungen/Löschungen, Einschüben usw. finden, sind dem Endprodukt selbst nicht anzusehen. Auch – die für den Erkenntnisfortschritt so wichtigen – Gespräche und Korrespondenzen mit Kollegen und Freunden, die im Laufe der Textproduktion stattfinden, lassen sich dem Endprodukt nicht ablesen, meist finden sie nur kurze Erwähnung im Vorwort. Ist aber sein Verfasstsein, die Geschichte seiner Entstehung, nicht unzweifelhaft eine wichtiger Aspekt jeder Textidentität?
Und die Zukunft?
Im zweiten Teil von “Der Text der Zukunft“ werde ich mich dann mit der Zukunft, d.h. mit den Möglichkeiten des Bitzeitalters befassen. Ich werde erläutern, wie die Struktur der Literatur durch die elektronische Textproduktion, -publikation und -rezeption offen zu Tage gefördert werden kann, wie der Text in seiner elektronischen Form zu sich selbst finden kann und das Papierzeitalter schließlich im Bitzeitalter aufgehoben wird.


[1] Meine Überlegungen beziehen sich in erster Linie auf sogenannte Textwissenschaften (Literaturwissenschaften, Textlinguistik, Rechtswissenschaft, Theologie, Philosophie usw.). Ich bin mit der Publikations- wie Anschlusspraxis und den Textarten in anderen wissenschaftlichen Disziplinen schlichtweg nicht vertraut und mir ist unklar, inwieweit sich die Reflexionen auf andere Wissenschaftszweige übertragen lassen.
[2] Das Papierzeitalter trägt seine Widersprüche mitunter offen zur Schau. Betrachten wir etwa den Status eines Artikels in einem Sammelband oder in einer Zeitschrift. Ein solcher Artikel hat einen Zwitterstatus, er gilt als „unselbständiges Werk“ – eine contradictio in adiecto, die darauf basiert, dass ein Artikel zwar durchaus eine abgegrenzte Einheit ist, die einen Titel hat und einem Autor zugewiesen wird, der Text aber, weil es ihm an einem eigenen Einband mangelt, eben nicht selbst stehen kann.