2012-04-12

Web-Thesauri im Wandel der Zeit

Im Anschluss an Joachim Neuberts gestrigen Vortrag im Rahmen des DINI-KIM-Workshops zum "Standard Thesaurus Wirtschaft (STW) als Dauerbaustelle" (Update: hier gibt es die Folien zu  Vortrag) war ein Hauptdiskussionspunkt die Frage, wie mit der Veränderung eines Thesaurus über die Zeit umzugehen sei.

Joachim nannte konkrete Zahlen, inwiefern sich der STW von einer Version zur anderen ändert: Neben einigen neuen Deskriptoren kommen etliche neue Nicht-Deskriptoren hinzu, Deskriptoren werden gelöscht oder erhalten neue präferierte Etiketten. All dies gilt es im Kontext einer Linked-Data-Variante des Thesaurus zu berücksichtigen und zu dokumentieren. Momentan gibt es im Linked-Data-STW einen übergeordneten URI für einen Deskriptor (z. B. http://zbw.eu/stw/descriptor/15441-2), die für alle seine Versionen steht. Bei Aufruf dieses URIs wird man mittels Redirect und Content Negotiation weitergeleitet auf die aktuelle Version der Deskriptorenneschreibung (http://zbw.eu/stw/versions/latest/descriptor/15441-2/about) im angefragten Format.

"Sammel"-URIs vs. Versionen-URIs

Diese Praxis eines Sammel-URIs, der für alle Versionen eine Deskriptors steht, wurde insbesondere von Georg Hohmann kritisiert. Ich habe sein Argument wie folgt verstanden: Sobald sich in unserer Beschreibung eines Konzepts auch nur ein wenig ändert, handelt es sich nicht mehr um die Beschreibung desselben Konzepts und muss einen neuen URI bekommen. Eine Änderung des präferierten Etiketts, die Ergänzung eines Nicht-Deskriptors oder die Ergänzung oder Löschung eines Verweises machen die Beschreibung also zu einer Beschreibung eines neuen Konzepts, was wiederum das Prägen eines neuen URIs nötig macht.

Übrigens: Ich finde es sehr problematisch, dass im Kontext von Thesauri und Klassifikationen häufig von "Konzepten"gesprochen wird (insbesondere SKOS ist mit diesem Sprachgebrauch durchwirkt). Das Denken in Konzepten verursacht m.E. mehr (Pseudo-)Probleme, wenn es um Dokumentationssprachen geht, als dass es Nutzen bringt. Aber dazu vielleicht mehr zu einem anderen Zeitpunkt. Im folgendenwerde ich jedenfalls konsequent von "Deskriptoren" sprechen.

Konsequente Umsetzung unmöglich

Ich gebe der Auffassung recht, dass sich Deskriptoren eine Thesaurus wandeln, sobald ihre Beschreibung verändert wird. Allerdings meine ich, dass ein Deskriptor auch durch andere Veränderungen einem stetigen Bedeutungswandel unterliegt. So wird die Bedeutung eines Deskriptors auch durch Löschung oder Hinzufügen anderer Deskriptoren desselben Thesaurus verändert, weil sich das Anwendungsgebiet des Deskriptors (seine Extension) dadurch erweitern oder verkleinern kann. Zudem ist ein Thesaurus kein in sich geschlossenes System. Vielmehr wird auch auf Deskriptoren von außen verwiesen, der Thesaurus verweist selbst auf Ausdrücke der natürlichen Sprache (mit Etiketten/Labels) und er wird von Katalogisieren und anderen bei der Inhaltserschließung angewandt. Dies führt dazu, dass die Bedeutung eines Deskriptors einem stetigen Wandel unterworfen ist.
  1. Ein Deskriptor besteht meist aus einer ID, einer Menge von (präferierten und alternativen) Etiketten, möglicherweise in verschiedenen Sprachen sowie aus einer Menge von Verweisen (broader, narrower, match, see also) auf andere Deskriptoren innerhalb oder außerhalb des eigenen Thesaurus. Seine Bedeutung wird primär durch diese Referenzen zur natürlichen Sprache und zu anderen Deskriptoren bestimmt. Folglich ändert sich diese Bedeutung auch, wenn sich an den Verweisen etwas ändert. So müsste also der URI eines Deskriptors jedes Mal angepasst werden, wenn sich bei einem Deskriptor etwas ändert, auf den jener verweist.
  2. Wie bereits erwähnt, wird ein Deskriptor allerdings nicht auschließlich oder hinreichend durch seinen Thesaurus-Eintrag definiert. Vielmehr bestimmt sekundär auch die Anwendung eines Deskriptors über dessen Bedeutung (Frei nach Wittgenstein: "Die Bedeutung eines Deskriptors ist sein Gebrauch in der Inhaltserschließung."). Es gibt sicher genügend Beispiele, wo ein Deskriptor im Widerspruch zu seiner ursprünglich intendierten Funktion benutzt wird, ich selbst habe dies schon häufig genug gesehen. Und wie wir von der natürlichen Sprache wissen, wird ein "falscher" Symbolgebrauch irgendwann korrekt, sobald genügend Menschen die "falsche" Verwendung praktizieren (Beispiele sind etwa "der Blog", "die URI", "wegen dem" etc.). Der Logik folgend, dass ein Deskriptor einen neuen URI braucht, sobald er nicht mehr "dasselbe Konzept" beschreibt, müsste sich mit jeder Anwendung eines Deskriptors seine URI ändern.
  3. Wie gesagt wird die Bedeutung eines Deskriptors innerhalb eines Thesaurus u.a. durch Verweis auf natürlichsprachige Etiketten definiert. Auch diese unterliegenden in ihrer Nutzung innerhalb einer Sprachgemeinschaft einem stetigen Wandel. Wenn gestern "Management" nur im Kontext der Führung von Unternehmen und anderen Organisationen benutzt wurde, haben sich heute die Verwendungskontexte erweitert. Müssten dies nicht die entsprechenden Einträge in Thesauri berücksichtigen und beim Gebrauchswandel eines Deskriptor-Labels den URI des Deskriptors verändern? Jeder Person dürfte klar sein, dass dies keinen Sinn ergibt.
URIs und Veränderung von Webressourcen in der Zeit

Ich bin zwar wie Georg Hohmann der Meinung, dass die in einem Thesaurus aufgereihten Deskriptoren einem ständigen Bedeutungswandel unterliegen:
  1. weil sich Deskriptoren wandeln, auf die ein Deskriptor verweist,
  2. weil sich die Verwendung des Deskriptors bei der Inhaltserschließung verändert,
  3. weil sich der Gebrauch der mit ihm assoziierten natürlichsprachlichen Etiketten wandelt
  4. und weil das Hinzufügen/Löschen neuer Deskriptoren zum Thesaurus das Anwendungsgebiet der anderen Deskriptoren beeinflusst
Diesen Wandel würde ich aber nicht unbedingt zum Anlass nehmen, bei jeder Bedeutungsänderung einen neuen URI zu prägen. Wie soll man aber sonst mit dem Problem umgehen?

Das hier diskutierte Problem wird im Web-Kontext durch die Unterscheidung von Ressource und Repräsentation zum Ausdruck gebracht. Ich habe etwa die Ressource, die durch den URI "http://www.spiegel.de/" identifiziert wird, von der ich allerdings zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Repräsentationen, unter Umständen sogar in verschiedenen Sprachen oder Formaten (Language/Content Negotiation) ausgeliefert bekomme.

Es gibt also mindestens drei Dimensionen, in denen sich verschiedene Repräsentationen einer Web-Ressource voneinander unterscheiden können:
  • Format
  • Sprache
  • Zeitpunkt (und damit im Inhalt zu verschiedenen Zeitpunkten)
Der Logik folgend, dass unterschiedliche Dinge unterschiedliche URIs haben sollten, müsste jede Repräsentation ihre eigene URI bekommen. Dies wird aber derzeit nicht gemacht.

Es gibt derzeit Bemühungen, um den zeitlichen Aspekt einer Ressource zu berücksichtigen und die unterschiedlichen Repräsentationen adressierbar zu machen: Das Memento-Projekt möchte zur Content-Negotiation die zeitliche Dimension hinzufügen. So soll es möglich werden, bei der Anfrage einer Web-Ressource über den HTTP-Header eine bestimmte zeitliche Repräsentation dieser Ressource anzufordern.

Memento & Thesauri

Eine Memento-Implementierung in einem Online-Thesaurus würde es ermöglichen, Repräsentationen/Versionen eines Deskriptors zu einem bestimmten Zeitpunkt zu adressieren, ohne dass zusätzliche URIs für verschiedene Versionen geprägt werden müssten.

Eine solche Art der Versionierung auf Veröffentlichungsseite wäre allerdings nur eine Seite der Problemlösung. Auf Nutzungsseite, wenn es um die Verwendung von Deskriptioren in der Inhaltserschließung oder um Mappings zwischen Thesauri geht, wäre es genauso wichtig, den Zeitpunkt der Vergabe eines Deskriptors zu dokumentieren. Wie eine solche Dokumentation aussehen könnte, dazu hat sich Felix Ostrowski schon ein paar Gedanken gemacht. Ein anderer Ansatz wäre die Verwendung von dated URIs (DURIs), die in diesem Internet-Draft spezifiziert werden. DURIS würden es auch ermöglichen, über einzelne Versionen RDF-Statements zu verfassen.

Ich halte es für sinnvoll, einen generischen Ansatz zur Versionierung von Webressourcen einem Thesaurus-spezifischen Ansatz vorzuziehen und würde mich interessieren, was Thesaurus-Fachleute davon halten.

2 Kommentare:

dr0i hat gesagt…

Die zeitliche Dimension zu berücksichtigen wäre eine tolle Sache! Semantik ist immer Kontext gebunden, eben auch an den zeitlichen Kontext. Z.B. kam gestern auf der #kim12 die Anmerkung dass es wohl falsch sei Joseph Ratzinger (URI: http://d-nb.info/gnd/11859854 ) in der Ansetzungsform mit dem Zusatz "Papst" zu benennen. Denn wenn ich z.B. nach allen Büchern dieser Person suche erhalte ich u.a. http://lobid.org/resource/HT000326768 "Einführung in das Christentum" von 1968 und zeige im Portal an "Autor: Benedikt [Papst, XVI.]" weil das der bevorzugte Name ist (gnd:preferredNameForThePerson). Das ist natürlich nicht ganz richtig weil Ratzinger zu dieser Zeit kein Papst war.

Die bisherigen alten Syteme konnten mit der notwendig erhöhten Komplexität nicht umgehen und die Menschen haben sich an die Unschärfe der Bedeutung gewöhnt. Sie haben sich daran gewöhnt durch manuelle Recherche die Bücher Ratzingers als Papst zu trennen von denen die er in einer anderen Funktion geschrieben hat. Es wäre aber schön wenn wir an unsere automatischen Informationssysteme sehr viel einfacher sehr viel genauere Anfragen stellen könnten, und die von Dir erwähnten Techniken würden dies möglich machen.

Joachim hat gesagt…

Hallo Adrian,

danke für das Aufgreifen und Fortführen der ausgesprochen anregenden Diskussion auf dem Workshop. Die Idee, Memento- oder sonstige timestamped URIs einzusetzen, ist faszinierend. In seinem LDOW-Paper von 2010, "An HTTPBased Versioning Mechanism for Linked Data" (http://events.linkeddata.org/ldow2010/papers/ldow2010_paper13.pdf), bringt Herbert van de Sompel die Memento-Versionierungsstrategie so auf den Punkt: "instead of minting a new URI for every new version, keep the URI stable and mint new URIs for old versions".

Um über die Differenzen zweier Versionen eines Deskriptors zu sprechen, müssten diese Versionen, explizit benannt werden können, also nicht nur über Präferenzen in der Content negotiation ermittelt, und sinnvollerweise auch nach für Menschen leicht fassbaren Versionsnummern, nicht nach Timestamps. Könnten das http://zbw.eu/stw/versions/8.08/descriptor/15441-2, http://zbw.eu/stw/versions/8.06/descriptor/15441-2 etc. für frühere Versionen von http://zbw.eu/stw/descriptor/15441-2 sein? Und was wäre ganz konkret notwendig, damit der Server das entspechende Mapping vornehmen kann?

Bei der Entwicklung von allgemein einsetzbaren und verstandenen Versionierungstrategien für Linked Data stehen wir, denke ich, noch ganz am Anfang.

Schöne Grüße, Joachim

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